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Shame on you

Scham ist ein wesentlicher Bestandteil meines Daseins. Ich meine nicht meines Jobs als Sexualpädagogin. Da geht es natürlich auch ganz oft um Scham. Aber je mehr ich mich mit dem Thema Leistung auseinandersetze, desto mehr merke ich, dass die Kehrseite Scham ist. Es war auch die Scham, die mich zu großen Teilen davon abgehalten hat, weiter zu bloggen, oder Texte mit Namen zu veröffentlichen. So hab ich einige Zeit nicht auf krachbumm, aber zumindest auf umstandslos gebloggt. Teils anonym, teils einfach nur nicht so publik gemacht. Schreiben musste ich einfach, aber so richtig herzeigen war schwer. Weil, ja weil, Trennung ist irgendwie peinlich und psychische Gesundheit erst recht, und Sex...pfuh, noch mehr. 

Das ist das eine, generell übers Thema zu reden. Das andere ist der persönliche Bezug, oder zumindest die Angst vorm persönlichen Bezug dazu.

 

Trennung ist peinlich; richtig gelesen. Ich hab mich so geschämt, mich zu trennen, gescheitert zu sein mit einer Beziehung - schon wieder...also nach 6 Jahren...und davor schon mal nach neun. Schon wieder getrennt; noch dazu mit Kind. Andere haben in meinem Alter ein Eigenheim und sind verheiratet. Viele andere aber nicht. Aber dort wo ich herkomme schon. Dort wo ich herkomme gibt es keine Geschiedenen. In meiner Familie gibt es sie nicht. Und wenn jemand eine Beziehung eingeht, dann hält die jahrelang und die Person wird immer zum großen Familienessen einmal im Jahr mitgebracht. Und wer sich trennt, hat danach die nächste Beziehung gaaanz lange. Heiraten und Haus oder zumindest irgendwo ausbauen sind auch so Parameter.

 

In der Hauptschule kannte ich eine einzige, deren Eltern getrennt waren, deren Mutter aber auch aber schon wieder einen Partner und weitere Kinder hatte. Im Gymnasium dann auch eine in der Klasse mit geschiedenen Eltern. Ich fand das unglaublich exotisch und aufregend. Als ich Anfang zwanzig war, begann es dann rundherum zu bröckeln und viele Paare aus der Elterngeneration trennten sich Bloß in meiner Familie nicht. Und ich dachte so oft, wenn es schwierig war: Aber ich kann mich nicht trennen, dann wäre ich ja gescheitert, dann wären ja diese Jahre umsonst gewesen, dann hätte ich ja von Anfang an eine falsche Entscheidung getroffen.

 

So ein bullshit. Aber ehrlich, das sitzt tief. Obwohl es niemand angesprochen oder ausgesprochen hat, nagte in mir das Gefühl alleinerziehend und/oder im Co-Parenting ( in jedem Fall unehelich schwanger geworden) würde ich irgendwie stigmatisiert; als lasteten auf mir die Generationen von Frauen vor mir, die unehelich und damit unehrenhaft schwanger geworden waren und aus der Gesellschaft ausgeschlossen worden waren.

 

Als ich wieder einen Partner hatte, konnte ich eine Art Erleichterung aus dem Verwandten-Umfeld spüren. Endlich läuft wieder alles in geregelten Bahnen. Vater-Mutter-Kind. Vollständig, so wie es sich gehört. Keine Frau, die vielleicht mit vielen unterschiedlichen Männern schläft. Shame, shame, shame, shame on you. 

 

(Ob das so stimmt, weiß ich nicht. Zumindest bei mir kamen diese Zuschreibungen innerlich hoch.)

 

Ehrlich, es war mir peinlich über Beziehungen und Sex zu schreiben und dabei getrennt zu sein. So, als hätte ich kein Recht mehr darauf, weil ich es nicht “richtig” mache. Außerdem ging’s mir schlecht. In mir brodelte es und ich hievte mich von einer Therapie-Sitzung zur nächsten. Über psychische Gesundheit zu schreiben ist ein Tabu. Aus der Distanz ist das leicht. Etwas zum Thema machen, allgemein Anprangern, dass wir immerzu Funktionieren sollen - das geht. Aber dabei fühle ich mich nie richtig authentisch, denn ich schreibe/operiere am offenen Herzen. Das bringt mir etwas, und ich denke anderen auch. Zumindest ich lerne von den offenen Herzen anderer am meisten.

 

Und so hör ich noch immer - spät aber doch - alle Paardiologie-Folgen von Charlotte Roche und ihrem Mann Martin und denke: Ehrlichkeit macht frei. Projizieren tun eh andere auf eine*n. Aber die Freiheit, sich in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit zu zeigen, muss mensch sich einfach nehmen. Gut. Dann nehm ich mir das mal. 

 

Noch was. Heute bin ich zufällig über eine Video im Netz gestolpert von Gereon Jörn mit dem schneidigen Titel “Wie du zu deinem natürlichen Selbstwert zurückfindest.” Zugegeben ich mag ja keine Thumbnails mit blauem Hintergrund und so Clickbait-Titeln. Hab ich aber natürlich draufgeklickt, weil das Thema an sich hab ich immerhin gegoogelt. However, die große Erkenntnis war nicht nur der Tun-Selbstwert (also wenn mensch sich wertvoll fühlt, weil mensch irgendwas macht, für das eine*r Anerkennung bekommt), sondern vor allem der Haben-Selbstwert.

 

Genau da kam auch wieder das Beziehungsthema vor: Hab ich eine Beziehung, bin ich wertvoll - da hab ich was “geleistet”. Hab ich keine, bin ich nicht wertvoll. Ebenso mit materiellem Besitz. Und schon sind wir bei diesen ganzen Lifestyle-Influencer*innen. Mein persönliches Highlight bislang war Werbung für einen stylischen Küchenrollenhalter. Hab ich mir nicht besorgt. Aber ehrlich, seit ich in einer eher fancy Wohngegend lebe mit einer neueren (teureren Wohnung), fühle ich mich wesentlich "wertvoller" (aus der Perspektive meines Herkunftsmilieus) als im WG-Zimmer im eher abgefuckten Viertel. Mir hat es überall gefallen. Mein WG-Zimmer hab ich über alles geliebt. Es war bunt und chaotisch. Ich (damals) auch. (Siehe Foto oben ;-) )Aber jetzt mache ich es “richtig”. So, wie es in meinem Alter “sein sollte”. Schaut aus, als hätte ich etwas dafür geleistet, auch wohntechnisch on top zu sein. Weil wie wir nun wissen, ist Leistung mein Thema (in allen Belangen).  

 

Passend dazu gibt es übrigens ebenso noch so einen alten Text auf umstandlos. “Auf Baby-Speed” heißt er. Er soll kein leuchtendes Beispiel dafür sein, was ein Elter nicht alles schaffen kann, sondern ein eher mit Vorsicht zu genießendes Zeitdokument einer Frau, die chronisch überbeschäftigt war und der das auch zum Verhängnis geworden ist.


Nachtrag Dez. 2020: Mittlerweile habe ich mich innerlich vom fancy Wohnungsmodell verabschiedet und plane für die Zukunft mit meinem Partner etwas, das eher meinem Bedürfnis nach "Es braucht ein ganzes Dorf" entspricht. Und: I am feeling fine :)